Genetische Zukunft des Menschen

Auf- und Umbruch
In diesem Blog wird ein wahrscheinliches Zukunftsszenarium und das dahinter stehende Menschenbild antizipiert, nämlich in den menschlichen Genpool eingreifen und letztlich die Selbstevolution vorantreiben zu wollen.
Eine radikale Neuerung scheint sich in den nächsten Jahrzehnten anzubahnen, den Menschen als Erbauer der eigenen Evolution hervorzubringen. Diese Entwicklung erbrächte eine neue Menschen-Art, die sich von der alten unterschiede.
Nicht alle Menschen könnten und/oder wollten am genetischen Aufbruch teilhaben, was zu zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Spannungen führte. Es drohte eine Spaltung in zwei Arten, "Homo profectus" (metaphorischer Terminus) und Homo sapiens sapiens.

Transhumanismus
Die im Einakter "Homo profectus" vertretenen Hypothesen, wonach künftige Menschen auf Keimbahneingriff und künstlicher Schwangerschaft setzten werden, haben einen Bezug zum Transhumanismus.
Der Transhumanismus ist eine internationale, wissenschaftlich orientierte Bewegung. Ihr Erkenntnisinteresse bezieht sich auf den technologischen Fortschritt und dessen Anwendung zum Wohle des Menschen. Der Transhumanismus nimmt hierzu eine teils rational-befürwortende, teils propagierende Haltung ein. Zentral scheint die implizite und/oder explizite Deutung des Menschen als einen nicht perfekten. Dank technologischer Selbstverbesserung kann/soll er fortentwickelt werden. Der Transhumanismus steht erkenntnistheoretisch in der Tradition alter mythisch-magisch-religiöser Zugänge zum Menschen als einem unfertigen Wesen, dem im Dies- oder Jenseits die Selbstverbesserung aufgetragen sei.

Der Transhumanismus untersucht künftige Möglichkeiten der menschlichen Selbstgestaltung mittels Technologie. Wichtige Themen sind
  • Lebensverlängerung sowie die umfassende Verbesserung der physischen und psychischen Verfassung des Menschen
  • Fortschritt der Künstlichen Intelligenz bis zum Überstieg in die Eigenständigkeit derselben
  • Verbindung von Hirn und Computer, indem letzterer das Hirn eines Individuums nachbildet
  • Verschmelzung von Mensch und Maschine und damit Verwandlung in eine neue Wesenheit
Die zu erwartenden, gewaltigen Umbrüche spielen sich in biologischen und künstlichen Systemen ab, wobei beide vielleicht später einmal verschmolzen werden. Der Transhumanismus scheint zur Zeit mehr auf nichtbiologische Technologien zu setzen.

Ektogenese
Menschliche Fortpflanzung ist längst kein natürlicher Vorgang mehr. Nach Etablierung künstlicher Befruchtung ist die Embryonalentwicklung unter künstlichen Bedingungen logische Zukunft. Die Entkoppelung von Zeugung und Schwangerschaft vom 'Natürlichen' geht einher mit erweiterten Eingriffsmöglichkeiten ins Leben des werdenden Menschen. Reagenzglasbefruchtung von genmanipulierten Geschlechtszellen (Gendesign) mit anschliessender kontrollierter Fötalentwicklung in einer künstlichen Gebärmutter gibt dem Menschen mehr Verfügungsmacht über das Leben, letztlich über seine Zukunft als Spezies.


Neues Selbstverständnis
Die technische Gestaltungskompetenz des Zukunftsmenschen geht mit einem veränderten geistig-psychischen Selbstverständnis einher und ebenso mit einer neuen Sexualeinstellung. Universelle Eigenschaften wie ‚sexuelle Liebe, Bindung, Schuld/Scham’ oder die Gewissheit einer unverwechselbaren, überdauernden Identität verlieren an Eindeutigkeit, sogar Wünschbarkeit. Nur multiple (im Sinne von ungefestigte) Personen werden den Entwicklungspfad des gentechnisch sich verändernden Menschen beschreiten können. Fragt sich gar, ob die 'Entkernung' der Persönlichkeit zur Voraussetzung 'gesunden' Funktionierens des künftigen Menschen gehört. (siehe Blogabschnitt "Persönlichkeit - assoziative Identitätsbildung")


Welche Zukunft für wen
Das im Blog entworfene Zukunftsszenarium ist eine Arbeitshypothese. Ausgehend von aktuellen Forschungstrends antizipiert sie eine wahrscheinliche Entwicklung im Bereich der Gen- und Neurotechnologie (rote Technologie).
Gleichberechtigt scheint eine andere Antizipation zu sein, wonach die künstliche Technologie (weisse Technologie: Informations- und Kognitionswissenschaften) soweit vorangetrieben werde, dass sich selbst replizierende und sich selbst erweiternde Bewusstseinssysteme (z.B. in Form humanoider Roboter) dereinst als Partner des Neumenschen, vielleicht als Konkurrenten, erschienen. Dieses Szenarium wird indes nicht näher verfolgt.

Vorliegender Zukunftsentwurf entspringt weder zustimmender Engagiertheit noch moralischen Motiven, um zu warnen.
Falls aber 'Zukunft' mitunter 'genetische Selbstevolution' bedeutete, seien einige Thesen zu ethischen, gesellschaftspolitischen und psychologischen Themen aufgelistet:
  • Menschen mit Zugriff zu technologischen Errungenschaften werden aus persönlicher Hoffnung (z.B. Wunsch nach Lebensverlängerung, nach Krankheitsschutz) trotz Krisen und Rückfällen der 'Selbst-Evolution' zustimmen
  • Die in den nächsten Jahrzehnten zu erwartenden Umwälzungen geschehen radikal und schnell, hinterlassen Gewinner und Verlierer; Nachholzeit für Letztere bleibt kaum. Es erzeugt gesellschaftspolitische Spannungen. Nur nivellierte Gesellschaften mit demokratischer Meinungsbildung und Handlungsbeschlüssen können die Herausforderungen befriedigend bewältigen
  • Da bio- und informationstechnologische Veränderungen sowohl Beteiligte wie nicht Beteiligte treffen, stellen sich hohe Anforderungen an Expertensysteme, an gesellschaftliche Ethikdebatten und demokratische Ausmarchungen. Nur direkte, nicht delegierte, demokratische Meinungsbildung wird allgemeinverträgliche Lösungen bringen
  • Psychische Strukturen des Menschen ergeben sich aus der Stammesgeschichte allgemein und der Homininengeschichte (inkl. kulturellen Leistungen) speziell. Betreibt er biologische Autoevolution, greift er ebenso (zB mittels Neuro-Enhancement) in die als Psyche bezeichnete Struktur und deren Abläufe ein. Homo profectus wird später anders 'ticken' als Homo sapiens
  • Der Neue Mensch erfordert, so die Annahme, eine multiple Identitätsbildung des Individuums. Dieser Prozess verläuft stetig, ohne endgültigen Abschluss. Wer mag das ertragen? Mildernd wirkt vielleicht, kompensatorischen Halt in geistig-psychischen Beschäftigungen meditativer Art zu finden
  • Im Bereich 'Hirn und Geist' nimmt die Neuroethik (z.B. Debatte über Neuro-Enhancement) künftige Beschäftigungen schon vorweg. Späteres Menschsein in vielen Varianten (vielleicht in zwei Arten) führt zu gesellschaftlichen Herausforderungen, welche ein viel höhere, permanente Durchdringung ethischer Fragen im Alltag erforderlich machen zwecks friedlicher Koexistenz der Arten oder gar zwischen Arten und anderen Intelligenten Systemen. Der Ethik bzw. der 'Philosophie des Geistes' müsste aber endlich eine prospektive, statt bloss reagierende Rolle zukommen
  • Braucht es angesichts der einsetzenden bio- und informationstechnologischen Evolution nicht schon längst Expertengruppen, welche aufgrund von Folgeabschätzungen als erkenntnistheoretische und bewältigungsstrategische Begleiter für Wissenschaft und Politik fungieren müssten?
  • Wenn vom "Technologischen Wandel" in der Homininengeschichte die Rede ist, fragt sich, wer denn eigentlich wen und wer was wohin bewege? Die Frage ist, ob uns ein menschenübergreifendes Agens voran treibt - wofür zwar weder ein luzider Uhrmacher noch eine dunkle Macht bemüht werden muss? Steht also haute der Mensch an der Schwelle der Selbstevolution, mag er hierfür nahursächlicher Initiant sein. Treibt ihn letztursächlich indes ein psycho-biologischer Imperativ an, auf dass er wollen will?

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