Persönlichkeit - assoziative Identitätsbildung

Ich-Erleben
Ein Individuum erlebt sich normalerweise als einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit mit einem Kern-Selbst. Dieses strukturiert sich durch Eigenschaften der Selbstvertrautheit, des Selbstmittelpunktes und der Selbstzugehörigkeit. Das Ich-Bewusstsein im Sinne des Ich-Erlebens ist primär aus der biologischen und sekundär der kulturellen Evolution hervor gegangen. Die evolutionären Gewichte können sich in Zukunft auch umkehren.
  • Die Ausgangshypothese lautet: Das erlebte oder bewusste "Ich bin" konstruiert sich zeitlebens selbst, dies aber auf dem Boden der Gene und der das Individuum prägenden Gesamtumstände. Das Individuum repräsentiert sich dabei ein zeitübergreifendes, einheitliches Selbst. Während psychischer Ausnahmesituationen wird dessen drohender Zerfall durch Rekonstruktion oder Restitution (siehe unten) des einheitlichen Selbst abgewehrt. Die Selbstkonstruktion ist unabdingbar für die Gewissheit, dass Ich bin.
Notlagen zwingen den Einzelnen unter Umständen zur Konstruktion multipler Ich, um mittels mehrfacher Persönlichkeitsanteile dennoch erfolgreich funktionieren zu können. Dieser Vorgang wird in der Psychopathologie als dissoziative Identität beschrieben. Menschen, die davon betroffen sind, werden als multiple Persönlichkeiten mit dissoziativen Störungen bezeichnet - Dissoziative Identitätsbildung.

Es fragt sich nur, ob dem Individuum die Möglichkeit des multiplen Ich-Erlebens ohnehin gegeben sei, indem zwischen Ich-Einheit und multiplem Ich ein Kontinuum bestände. Ob anlage- und/oder biografisch bedingt, scheinen multiple Identitäten zur psychischen Grundausstattung zu gehören. Wie anders wäre beispielsweise Empathie möglich? Oder mit einem anderen Ansatz: Spiegelneurone müssen eigentlich situativ umschriebene, zeitlich begrenzte, multiple Ich-Repräsentanzen erzeugen.
Werden multiple Identitäten in das sich immerzu konstruierende und restituierende Selbst integriert, erlebt sich das Individuum einheitlich; demnach wäre umgekehrt bei einer dissoziativen (multiplen) Persönlichkeitsstörung der Zustand dauerhafter Desintegration gegeben.

Multiples Ich-Erleben
Sind Situationen denkbar, bei denen ein kohärentes, zeitlich stabiles Ich-Gefühl (Mono-Ich-Erleben) nachteilig ist, beispielsweise in Zeiten fundamentaler biologischer und/oder technologischer Veränderungen?
  • Die Folgehypothese lautet: In wenigen Jahrzehnten setzen moderne Gesellschaften auf genetische Selbstveränderung und künstliche Reproduktion. Nur Menschen mit einer diesen ‚Zeitumständen’ angepassten psychischen Ausstattung vermögen diese technische und kulturelle Entwicklung voranzutreiben; zugleich werden sie von eben diesen Errungenschaften mitgeprägt.
Homo profectus - Assoziative Identitäten
Individuen mit integrierten, multiplen Identitäten, welche als zum Ich gehörend bejaht werden, dürften den Anforderungen der Zukunft am ehesten genügen. Gefordert ist der plastische Mensch, welcher das Selbstmodell zu erweitern vermag. Er muss das, was als Ich-Bewusstsein bezeichnet wird, stetig neu und multivariat konstruieren (nicht mehr rekonstruieren oder restituieren) und im Netzwerk mehrerer Ich mit einander verknüpfen - Assoziative Identitätsbildung.
  • Künftige Menschen mit assoziativer Identität haben kein erlebtes oder bewusstes Kern-Selbst mehr. Der Neumensch ändert ja laufend seine äussere Gestalt. Gentechnische Eingriffe lassen ihn zeitlebens unfertig und konstruiert erscheinen. Stete Umwandlung erfordert aber eine ‚Persönlichkeit im Fluss’, welche die permanente äussere Selbstmodifikation internalisiert und erträgt, aber auch als ich-synton erlebt
  • Menschen mit assoziativer Identität erlebten hingegen "Kernpersönlichkeit, Ich-Identität, Authentizität, wahres-einheitliches Selbst" als ich-dyston
  • Angesichts der gentechnischen Menschenmodellierung und künstlichen Reproduktion wird die Geschlechter-Sexualität überflüssig. Sexualität zwischen den Geschlechtern gilt alsdann bloss noch als Rudiment der menschlichen Stammesgeschichte. Eindeutige und endgültige Geschlechteridentität löst sich auf. Der Menschheitstraum nach geschlechtlicher Ganzheit erhält eine Option auf das Erlebnis sequenzieller Einheit
  • Die bio-psychischen Entstehungs- wie Sozialisationsbedingungen des Homo profectus erfordern den psychisch unfertigen, vorläufigen Menschen
  • Das Bedürfnis nach individuell-eindeutiger Verortung in einem Familiensystem oder die Selbstwahrnehmung, über die Zeit hinweg bei aller Selbstveränderung immer dieselbe Person geblieben zu sein, ist mit den Ergebnissen und Erfordernissen des kulturellen und genetischen Umbruchs nicht mehr kompatibel - wird psychopathologisch erfasst und nosologisch klassifiziert werden. (Ja, kommt Zeit, kommt Umkehrung)
  • Bindungs- und Beziehungsfähigkeit ertragen sich schlecht mit künstlicher Reproduktion und Gendesign. Die genetische Zukunft bevorteilt Bindungs- und Beziehungsabstinente; nur sie leben unter laufend neuen Bedingungen ‚gesund’. Bindung und Intimität werden heute schon zunehmend wie Relikte einstigen nativen Verhaltens in ritualisierter Form öffentlich zelebriert und vom Individuum bloss noch partizipativ befriedigt.

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